Werner Stegmaier

Orientierung in Zeiten der Krise

20.03.2020

Die Welt erfährt die Corona-Epidemie und braucht neue Orientierung. Alles kann sich ändern, alles wird sich ändern, manches von Tag zu Tag. Von Situation zu Situation sind schnelle Neurorientierungen nötig. Ändern wird sich dabei auch die Orientierung selbst. Man weiß vieles, aber nichts sicher. Werte verschieben sich, werden suspendiert, werden umgewertet. Man kann statistisch berechnen, wie viele Menschen in welchen Bevölkerungsgruppen unter welchen Vorgaben sterben werden, und muss sich darauf einstellen. Man muss schwerste Entscheidungen treffen, Entscheidungen über Leben und Tod einer unabsehbaren Zahl von Menschen, je nachdem, wie weit die Menschheit durchseucht wird. Die Entscheidungen fallen unter Ungewissheit, ohne hinreichendes Wissen über ihre Voraussetzungen und ihre Folgen. Niemand weiß, wie die Krise bewältigt werden kann und wie sie ausgehen wird. Sich-Orientieren heißt, Entscheidungen unter Ungewissheit treffen. Orientierung ist darum immer vorläufig, in den Folgen ihrer Entscheidungen aber endgültig. Orientierung ist die Leistung, sich in einer neuen Situation so zurechtzufinden, dass man Entscheidungen treffen kann, um sie erfolgreich zu bewältigen. In einer solchen Krise, die für viele und für vieles tödlich enden wird, stellt man vom Wissens- auf den Orientierungs-Modus um, entscheidet man sich für den Orientierungs-Modus.

Diese Krise hat schnell gezeigt, dass die ganze Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt in sie involviert ist; sie durchdringt alle Lebensbereiche, alle Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft, und wühlt sie auf, nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch die Wirtschaft, die Politik, die Medien, das Recht, die Bildung, die Wissenschaft, die Kunst, die Ethik und wohl auch die Religion. Sie verändert ihr eingespieltes Zusammenspiel. Verbindliche Entscheidungen für eine Gesellschaft als ganze muss die Regierung treffen; sie bekommt oder nimmt sich nun stark erweiterte Entscheidungsbefugnisse, die von der Bevölkerung und den anderen Funktionssystemen auch akzeptiert werden; in Notsituationen springt die Moral an: Notleidenden muss unverzüglich geholfen werden, nun auch der notleidenden Wirtschaft, damit die Menschen sich nicht nur weiter ernähren, sondern auch arbeiten und produzieren können; unter Berufung auf die Notsituation und ihre moralischen Forderungen werden Grenzen des Rechts hier eingeschränkt, dort erweitert oder übersprungen; politische Opposition wird weitgehend eingestellt; die Wissenschaft muss fachlichen Streit ruhen lassen, der Politik mit unbestrittener Autorität die zuverlässigsten Daten, Diagnosen und Prognosen liefern; Medien müssen auch die unheilvollsten Meldungen so in die Bevölkerung tragen, dass sie dort keine Panik verursachen; Kunst muss sehen, wie sie jetzt noch unterhalten kann oder kreativ desorientieren darf, Religion, wie sie noch erbauen und trösten kann. Alle arbeiten bis auf weiteres im Not-Modus. Überall werden Opfer verlangt und erbracht. Manche werden die Situation für ihre Zwecke nutzen. Aber man muss auf das Nächstliegende sehen, von den ferneren Folgen vorläufig absehen. Zeitlose moralische Prinzipien werden auf Zeit suspendiert. Wenn man ohne sie besser durch die Krise kommt, werden sie künftig an Glaubwürdigkeit verlieren.

Da die Corona-Not die Weltbevölkerung im Ganzen trifft und für jeden Einzelnen den Tod bedeuten kann, entsteht ein neues Gemeinschaftsgefühl über die sozialen Schichten die Nationen und Staaten hinweg; persönliche und nationale Egoismen fallen nun besonders unangenehm auf. Zugleich verlangt die Eindämmung der Verbreitung des Corona-Virus räumliche soziale Distanz. Menschliche Kommunikation muss weitgehend auf unmittelbare Interaktion verzichten. Die Digitalisierung der Kommunikation kann und muss vorläufig einspringen. Wo sie gelingt, wird man weiterhin, auch nach der Krise, auf sie setzen. Der Krisen-Modus kann dauerhafte Neuorientierungen schaffen.

Im Begriff der Krise liegt die Zuversicht, dass sie überstanden wird. Eine Krise kann ein Ende herbeiführen, muss es aber nicht. In der Krise braucht man die Zuversicht, dass die Ressourcen jedweder Art, an Gesundheit, an Wissenschaft, an politischer Entscheidungsfähigkeit, an rechtlichen Möglichkeiten, an moralischen Werten, an religiösem Trost, aber auch und vor allem an Orientierungsfähigkeit ausreichen werden, um sie zu bewältigen. Zuversicht geben vor allem Routinen. Sie besagen: es ist bisher gut gegangen, es wird auch weiter gut gehen. Routinen sind Orientierungsgewohnheiten; sie entstehen von selbst, spielen sich ein. Viele Routinen des alltäglichen Lebens sind von auch von dieser Krise nicht berührt; sie können auch durch diese Krise tragen. Soweit sie von der Krise beeinträchtigt werden, spielen sie sich neu ein. Gerade in der Krise muss man neue Routinen gewinnen. Das können auch Krisen-Routinen sein. Sie festigen sich von Tag zu Tag, solange die Krise dauert, solange man erfolgreich mit ihr umgehen kann. Auch im Krisen-Modus erhält sich der Routine-Modus. Er gibt immer neuen Halt in der Orientierung.